Montag, 27. Februar 2017

Gestohlene Erinnerungen

Ein weiser Bauer sprach ein mal:

"Überfüttere das Vieh nicht, sonst wird es gierig. Aber fütter es genug, sodass es keinen Hunger leiden muss. Sonst schmeckt es nicht!"

Mit dieser schlechten Metapher möchte ich kläglich meine Schreibfaulheit erklären, die sich nun über mehrere Wochen (manche Pessimisten bezeichnen es als "Monate") hinweg zog und eine vermeintlich riesige Lücke in die Herzen der Leserschaft gerissen hat, welche es nun mit der langersehnten Fortsetzung meiner Geschichte zu füllen gilt.
Darum habe ich mich dazu entschlossen, diesen Blog-Eintrag EXTRA lang zu gestalten, für all diejenigen, die bei mir geklagt haben.
Das bin ich euch schuldig.
Quasi doppelt so lang, dafür aber ohne Bilder und mit schön kleiner Schrift.

Aber im Ernst, ich muss mich für meine Abwesenheit entschuldigen. 
Was war denn nun geschehen?
Wie hat Roger die Situation und die Gefahren gemeistert?
Wann hört er endlich auf zu faseln, und beginnt mit der Fortsetzung, die uns seit langem versprochen wurde?
Wer ist Roger?

Ich möchte niemanden länger auf die Folter spannen, und knüpfe dort an, wo ich aufgehört habe.
Sofort nachdem ich im letzten Blog-Eintrag nachgelesen habe, wo das überhaupt war.

Ah ja, gut. 

Ich verließ also ganz klein und schwitzend den Check-in Bereich. So wie man es nun mal tut, nachdem einem das Recht zum Betreten des Fliegers verwährt wurde. 
Nach kurzem Überlegen und einem Moment der Peinlichkeit, in dem ich jedes Augenpaar der anderen (und weitaus schlaueren) Passagiere auf meiner Haut spüren konnte, kam ich dann zu dem Entschluss, dass es das beste sei, sich an die Fluggesellschaft zu wenden, die mich eigentlich nach Vietnam hätte fliegen sollen. Oder wie amerikanische Veteranen es nennen: "Nam".
Ich lief zur kleinen Office-box der Air Asia Fluggesellschaft in der obersten Etage des Suvarnabhumi Airports und bat um Hilfe.
Mit meinen bis dato rudimentären Thai Kenntnissen schilderte ich ausführlich und äußerst unverständlich mein Problem.

Nachdem das schüchterne Gelächter der Mitarbeiter verstummt war, und ich gemerkt hatte, das keiner ein Wort verstand, versuchte ich es nochmals auf Englisch.
Diesmal mit mehr Erfolg.
Ich hatte den Flug zu einem Seminar verpasst, dass noch an diesem Tag beginnen sollte. Ich hatte kein Visum. Ich hatte kein Geld. Das waren so weit die Fakten.
Freundlich und hilfsbereit kamen mir die Mitarbeiter entgegen und ließen mich eintreten in ein Büro, dass so groß war wie ein Daumennagel. 
"Zunächst ein mal benötigst du ein gültiges Visum", erklärte mir der homosexuelle Air Asia Mitarbeiter, und setzte mich an einen der PCs, die sich in der menschlichen Legebatterie befanden.
Als ob ich das nicht bereits selbst gewusst hätte...
Es wussten ja schließlich auch all die ach-so-tollen anderen Passagiere, die den Flug mit ihren perfekt und wunderschön vorbereiteten Visa betreten durften, und meine Schmach live mitverfolgt hatten.
Draußen vor dem kleinen Eingang bildete sich eine Traube in rot gekleideter Air Asia Kollegen, die alle einen Blick auf mich erhaschen wollten.

Mit schnellem Verstand und eifriger Hand öffnete ich den Browser (für die älteren Leser: das Internet) und erkundete mich erstmals gründlich über die geltenden Voraussetzungen, die nötig waren, um das Land Vietnam als Fremder zu bereisen - und ich bemerkte schnell meinen Fehler.
Senden Sie dies, tun Sie das, warten Sie auf die Bestätigung und und und.
Nichts von dem hatte ich getan. NICHTS!
Weder war mein Einreisedokument korrekt ausgefüllt gewesen, noch eine Bestätigung eingetroffen. Nunja, das eine schloss das andere auch irgendwie aus.
Thailand würde das schon irgendwie richten.
Hier ließ sich doch schließlich alles richten, oder? Nicht nur Nasen und Zähne.
Ein Land mit scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, so hatte es sich mir trügerischer weise immer dargestellt, aber mir wurde von Sekunde zu Sekunde klarer, dass dies noch lange kein Freifahrt-Schein für sämtliche meiner fahrlässigen und idiotischen Handlungen war.
Es war und ist zwar ein Königreich, aber der König hieß nicht Oz und zaubern konnte gar niemand. Erst recht konnte man einem hier nicht weiterhelfen, wenn es um die Einreisebestimmungen für ein anderes asiatisches Land ging. 
Ich verstand nicht viel, aber genug um zu wissen, dass mein Aufenthalt am Suvarnabhumi Airport sich wohl noch etwas in die Länge ziehen würde. 
Laut Internetseite würde die Bearbeitungsdauer eines neuen Antrags drei Tage dauern.
DREI Tage!
Und das war nur die Wartezeit; ich musste schließlich auch ein neues Visum bezahlen. Und das kostete. Kostete weitaus mehr, als mir zur Verfügung stand. Jeder letzte Baht war abgezählt, und während ich all diese Informationen in mich aufsog, wie ein fauliger Schwamm, wuchs in mir eine Unbehaglichkeit heran, die man wohl nur mit dem Heranwachsen einer Ziste vergleichen kann. Dieser bereits ewig lange Trip wollte einfach kein Ende nehmen.
Güäääärg, wäre das Geräusch gewesen, dass ich am liebsten aus der Kehle gestoßen hätte.

Ich tat es aber nicht. Im Gegenteil. Ich machte einen auf cool und lässig.
(Güü-äääääär-r-r-rg! rief es in meinem Verstand)
"Darf ich kurz meine Entsendeorganisation kontaktieren?" fragte ich den homosexuellen Mitarbeiter.
"Selbstverständlich", sagte er, "nimm dir die Zeit, die du brauchst."
Ob er selbst an seinem Computer arbeiten müsse, fragte ich ihn nicht.
Per Skype wandte ich mich an die Leute von Weltwärts und musste auch nicht besonders lange warten, bis ich eine Antwort bekam. Die Menschen dort sind schließlich Profis.
Ich führte ein Gespräch mit einer der netten Mitarbeiterinnen, und schilderte ihr wahrheitsgemäß mein Problem.

"Während meiner regulären Anmeldung für das Visum ist ein technischer Fehler aufgetreten, den die Mitarbeiter der Webseite zwar selbst verursacht haben, aber so schnell nicht beheben können. Es scheint, als wäre mein komplettes Anmeldeformular im Datenstrom verloren gegangen. Nun wollen die MIR den Fehler an die Backe schmatzen, dabei habe ich alles rechtmäßig befolgt, wie es auf der Internetseite beschrieben wurde. Jetzt sitze ich am Flughafen fest. Das alles ist wahrscheinlich auf die soziale Ungerechtigkeit zurückzuführen, die die Arbeiter dazu veranlasst nicht ordnungsgemäß zu arbeiten, sondern stattdessen ihren Tagträumen nach Gleichberechtigung nachzuhängen"

Bla.

Irgendwie so muss das gelaufen sein, denn schließlich entschlossen sich die Leute von Weltwärts mir aus der Patsche zu helfen, und zwar auf dem einzigen Wege, der beiden Parteien als sinnvoll erschien. Moneeeeeey.
Und hier beginnt dann auch schon eine der denkwürdigsten und schönsten Zeiten, die ich in meinem ganzen Leben nicht missen will.
72 Stunden am Flughafen in Bangkok.
Das Geld für einen neuen Flug und das neue Visum wurde mir per Western Union überwiesen, und sollte bereits am nächsten Tag ankommen. 
Mit dieser Rückendeckung ließ sich die ganze Problematik natürlich viel leichter anpacken. Zumal mir wesentlich mehr überwiesen wurde, als ich tatsächlich gebraucht hätte, aber das bleibt besser unser kleines Geheimnis.
So saß ich jedenfalls da nach dem Gespräch, an einem der schönsten Flughäfen der Welt (der mit der Zusicherung finanzieller Hilfsmittel noch um eine Nuance schöner geworden war), und dachte mir:
Wieso eigentlich nicht? Ist doch geil hier!
"Und nun?" fragte mich der homosexuelle Mitarbeiter.
"Ich werde wohl ein paar Tage hier am Flughafen verweilen müssen. Zumindest so lange, bis ich mein Visum bestätigt bekomme. Den neuen Flug buche ich dementsprechend", antwortete ich ihm.
Das schien ihn und die anderen Mitarbeiter sichtlich zu freuen.
"Du kannst den PC hier benutzen, wann immer du ihn benötigst", bat er mir an.
Und so geschah es. 
Mit dem Wissen, dass das Notgeld bereits auf dem Weg war, konnte ich meinen eigenen Geldbeutel plündern. Somit lief ich wie ein König durch den Flughafen und verteilte die Bahtscheine wie der Herbstwind das Laub. 
Flughafenbier im 7/11? War mir egal!
Footlong Spicy? War mir egal!
Ich versorgte mich mit Chang, genoss das Essen, setzte mich auf Bänke, hörte Musik, las mein Buch, setzte mich an den Computer, palaverte mit den Air Asia Mitarbeitern, freundete mich mit dem Personal an, versorgte mich mit noch mehr Chang, aß Footlong Spicy, hörte Musik und so weiter.
Ich genoss das Leben in vollen Zügen und beobachtete belustigt die Leute, die sich abhetzen mussten um ihre Flieger zu bekommen, während ich mir das Terminal langsam zu einer Wohnlandschaft gestaltete. Nach Hause zu Krakosien ich wollte nicht mehr. 
Der Tag endete und ich verabschiedete mich von meinen neu gewonnenen Freunden am Flughafen.
"Bis morgen Mr. Visa!"
Fortan war dies mein neuer Spitzname gewesen.
Ich suchte mir eine ruhige Ecke, legte mich auf eine Bank - den Rucksack als Kopfkissen - und schlief verhältnismäßig gut. 

Als der Morgen hereinbrach lauerte eine Überraschung auf mich. Einer der Securities des Flughafens - sein Name war Aun - begrüßte mich und drückte mir eine große Tüte in die Hand.
In jener Tüte befanden sich einige nützliche Dinge, unter anderem ein frisches T-Shirt, Ein Rasierer, Duschzeug, ein paar Snacks, und zu guter letzt ein paar Coupons für die Flughafen Kantine. 
"Du kannst gern die Mitarbeiterdusche benutzen", sagte er und zeigte mir den Weg in einen Bereich des Flughafens, den man als normal sterblicher Bürger sonst nicht zu sehen bekommt. 
An den grauen Wänden hingen dicke Rohre, und ich folgte diesen bis zu einer Tür über der ein männliches Strichmännchen prangerte.
Aun drückte mir ein Handtuch in die Hand und schloss mir die Tür zur Kabine auf.
Es war an der Zeit mein Eau de nature von mir abzuspülen. 
So sahen es scheinbar die anderen.
Ich tat wie mir geheißen und fühlte mich frisch und munter für den allmählich heranreifenden Tag.

Gleich um 09:00 ging ich zum Western Union Stand und holte, was mir nicht zustand.
Danach lief ich hoch in die Air Asia Box. Darin und darum herum begrüßten mich bekannte Gesichter,
Mr. Visa
Zu beiden Seiten hin Luftküsse verteilend schritt ich hinein und besetzte den PC um meinen Flug zu buchen, und das Visum ordnungsgemäß zu beantragen. Ich chattete mit Leuten auf Facebook, begrüßte neue schaulustige Mitarbeiter und ergötze mich an all dem, was das Leben eines gefälschten Tom Hanks so hergab.
Im 7/11 guckten die Verkäufer recht blöd, als sie mich erneut sahen. 
Doch irgendwie schienen sich alle an mich zu gewöhnen. Ich war eben, naja, ich.
Der Farang Khee Nok (zu deutsch im übertragenen Sinne: Westler, der von einem Vogel ausgeschissen wurde), und damit hatte ich keine Probleme. Zeitweise stand ich bei Aun, dem Security, am Air Asia Check-In Schalter, zeitweise saß ich auf Toilette. Der ganze Tagesablauf entwickelte sich zu einer Routine.
Mit den Coupons, die mir gegeben wurden, gönnte ich mir das thailändische Kantinenessen.
So verging auch der zweite ereignisreiche Tag wie im Nu.
Die Air Asia Box schloss, ich gönnte mir noch ein, zwei, acht Chang Bier und legte mich auf der unveränderten Metallbank des Vorabends nieder.
Das alles, dieses bloße sein an diesem Flughafen hatte eine unbeschreibliche Magie. Alles schien zu passen: die Atmosphäre, die Menschen, das Klima. Einfach alles.
Auf die Frage, warum ich denn nicht ins Flughafenhotel ginge konnte ich nur schlicht und einfach antworten;
"Weil es mir hier gefällt."
Und das tat es.
So sehr, dass mir der dritte Tag schon fast etwas Kummer bereitete. Die Bestätigung für das Visum kam, und der Flug war in trockenen Tüchern. Ich ging die üblichen Wege.
Wo am zweiten Tag noch blöd geguckt worden war, bekam ich nun ein Lächeln geschenkt.
Ich weiß nicht, was die verschiedensten Mitarbeiter der verschiedenen Läden von mir dachten, aber irgendwie hatte ich es geschafft in so kurzer Zeit ein Teil ihres Alltags zu werden.
Immerhin stattete ich ihnen mehrmals täglich Besuche ab.
Ich verabschiedete mich, wie ich es jedes mal getan hatte.

In der Box herrschte gute Stimmung, als ich ihnen die Botschaft meines "Erfolgs" übermittelte.
Ich hatte endlich das geschafft, was die meisten normalen Menschen schon nach dem ersten Anlauf geschafft hätten. Aber manchmal kommt mir meine naive Fahrlässigkeit wie ein Segen vor. Die besten Dinge sind aus ihr heraus entstanden. Dinge an die ich mich gern erinnere, und die ich gern festhalte. Dinge, die ich euch gern erzähle.

Aun begleitete mich zum Check-In Schalter, an dem dieselbe Frau saß, die mich 72 Stunden zuvor hatte abweisen müssen.
Mit gespielt stolzer Mine präsentierte ich ihr den Ausdruck meiner Visa-Bestätigung.
Gleichgültig händigte sie mir meinen Boarding-Pass aus und nahm mein Gepäck entgegen.
Als ich eingecheckt war lief ich noch ein mal zurück zu den Air-Asia Menschen und verabschiedete mich von ihnen.
Die Männer winkten, und die Frauen weinten, während ich mit glasigen Augen von dannen Schritt.
Problemlos kam ich durch die verschiedensten Kontrollen und schwuppdiwupp war es Zeit zum boarden.
Ich saß im Flieger, gekleidet wie der sommerlichste Sommertourist, und startete endlich in Richtung Hanoi.
Fassungslos über die Tatsache, dass meine Reise zum Flughafen insgesamt 4 Tage gedauert hat schaute ich sehnsüchtig auf ihn herab, während die Maschine höher und höher in den Himmel stieg, und konnte dabei nur an eines denken:

Wir sehen uns wieder, mein Schatz. Mein Heim. Mein Herz. Mein geliebter Flughafen...

Ich schlief ein, und so viel Freude mir die Zeit am Flughafen auch bereitet hatte, muss ich zugeben erleichtert gewesen zu sein, als ich sie endlich hinter mir lassen konnte.

Das nächste woran ich mich erinnere war ein heftiges Rütteln. Ich schreckte mit schwitzigen Händen und verklebten Augen auf und dachte, das Flugzeug würde abstürzen.
Dabei waren wir einfach nur gelandet, und ich hatte den Anflug verpennt. So eine Landung kann schon mal den härtesten Mann aus dem Konzept bringen, wenn sie einen aus dem Tiefschlaf reißt.

Das Wetter um mich herum war grau und trist. Fluglotsen und andere Arbeiter liefen in ihren Winterjacken herum und schwenkten irgendwelche leuchtenden Plastikschilder und taten dies und jenes.
Der Knackpunkt hier waren die Winterjacken.
Und die Atemwolken, die aus den verschiedensten Mündern stießen.
Ich saß da in meinem T-Shirt und schaute mir auf die Flip Flops.
Meine Füße konnte ich Gott sei Dank mit Leichtigkeit sehen, schließlich trug ich nur kurze Hosen.
Aber draußen trugen sie Winterjacken und schossen Atemwölkchen wie Projektile durch die Luft.
Welch freudige Überraschung.
Es war Februar und es hätte mir wirklich gut getan, mich vorher über die verschiedensten Jahreszeiten in den verschiedensten Regionen zu informieren, aber neeiiiiiin, mein jugendlicher Verstand sagte mir:
Ist es in Thailand warm, ist es auch in Vietnam warm! Ist ja eigentlich auch alles dasselbe Land!

Der Flieger rollte über die Landebahn und kam zum Stop, die Türen flogen auf.
Sich die Hände reibend verließen die deutlich dicker gekleideteren Passagiere nach und nach die Flugmaschine.
(die ach-so-schlauen und ach-so-tollen und gut vorbereiteten Passagiere)
Ich zeigte so viel nackte Haut, dass es mindestens noch zwei weitere Händepaare und einen Gorilla gebraucht hätte, um mich zu wärmen. Darum entschied ich mich dazu, die Zähne zusammenzubeißen.
Und die klirrten...

Ich folgte allen anderen, bis wir an den Immigrationsschalter kamen. Dort galt es noch einige Dokumente auszufüllen, und das Visum, das man selbstverständlich ordnungsgemäß beantragt hatte, wenn man denn hier gelandet war, zu bezahlen.
Ich holte mein Gepäck und verließ den Flughafen um eine zu rauchen.
Da stand ich, schnatternd und grübelnd, während sich mir das nächste Problem offenbarte:
Ich war drei verdammte Tage zu spät!
Was bedeutete das?
Das bedeutete: -
- dass der Abholservice fürs Seminar natürlich schon längst vorbei war. Das wahrscheinlich keiner von den fremden Menschen dort überhaupt irgendetwas von mir gehört hatte, geschweige denn damit rechneten, dass ich erschien. Dass ich keine Ahnung hatte wo es stattfand, und wie ich auf mich allein gestellt dort hin kommen sollte.
Ich wusste lediglich zwei Dinge. Erstens, dass ich nach Hua Bingh musste, oder wie auch immer man das Nest schreibt, und zweitens irgendwas mit Mhong.

Verzweifelt eierte ich umher und versuchte jemanden ausfindig zu machen, der der englischen Sprache mächtig war.
Nach einiger Zeit geriet ich dann an jemanden, der mir von einem Busbahnhof ganz in der Nähe berichtete. Ich weiß ehrlich gesagt auch gar nicht mehr, wie ich dorthin gelangte. Ob mit Taxi oder zu Fuß? Keine Ahnung. Aber ich kam irgendwann an, an diesem... "Busbahnhof".
Bauernhof hätte es eher getroffen.
Ein paar kleine, schäbige Busse standen dort herum. Mitten in der Pampa.
Hua Bing?
Hua Bingh!
Ich stieg in einen der vertrauenserweckenden Busse und setzte mich in die letzte Reihe. Langsam füllte er sich und es wurde wärmer. Zum Ticketpreis hatte mir niemand etwas gesagt. Ich saß einfach in dem Bus und hoffte, dass die Leute ebenso wenig mit mir zu tun haben wollten, wie ich mit ihnen. Natürlich gab es ehrfürchtige Blicke. Wie so oft war ich die einzige Langnase unter einem Haufen Asiaten, aber im Gegensatz zu Thailand fühlte ich mich fremd.
Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung und mit ihm sämtliche Sitze.
Wackelnd und schaukelnd fuhren wir durch das graue Vietnam. Berge zogen vorbei, Reisfelder weiteten sich endlos in sämtliche Richtungen und ein Dorf nach dem anderen passierte die Fensterscheiben, bevor es dann wieder im Nebel verschwand.
Die Zeit verging und mit einem Kloß im Hals musste ich nach einer Stunde feststellen, dass es doch ziemlich gewagt gewesen war, einfach in einen Bus zu steigen, ohne vorher mit irgend jemandem Absprache zu halten.
Aber es war auch alles so verdammt schwierig ohne Internet, vor allem in einem Land, in dem kaum jemand Englisch sprach!
Schwierig, schwierig!

Einiges an Geld hatte ich bereits am Flughafen umgetauscht, und das war gut so, denn es näherte sich der Moment der Stunde:
Einer der Männer die vorne beim Fahrer saßen stand auf, und in der Hand hielt er etwas wie eine Dose, oder einen Gebetsteller oder was weiß ich.
Nach und nach streckten ihm die Fahrgäste verschiedenste Geldscheine hin. Mit meinem Sherlock Holmes-artigen Verstand schlussfolgerte ich, dass es wohl abhängig davon war, welche Strecke man in dem Bus zurücklegte. Nun hatte ich jedoch keine Ahnung, wo Hua Bingh war und unter welchen Tarif das fiel, also tat ich das einzig kluge, was man in der Situation hätte tun können.
Ich schmulte meinem Sitznachbarn auf die Finger und kramte einen Schein hervor, der seinem am ähnlichsten sah.

Unsere Blicke trafen sich - der Geldsammler und ich. Er nahm meinen Schein entgegen, ich blieb standhaft. Mit der Zunge feuchtete ich meine Lippen an, bereit etwas zu sagen, wenn es denn nötig wäre. Englische Wörter schossen mir durch den Kopf, mit dessen hochgradiger Schwierigkeit und Komplexität ich meinen Gegenüber jederzeit hätte entwaffnen können, wenn er es darauf anlegen sollte.
Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, obgleich die Kälte des Wetters ihm eine Gänsehaut verpasste. Er schmatzte, doch sein Mund war zu trocken, um etwas zu sagen. Zu selbstsicher war mein Gesichtsausdruck, zu minimal seine Sprachkenntnisse. Die Leute um uns herum schwiegen, als die chinesische Digitaluhr eines Passagiers Mittag schlug.
Tüüt Tüüt T-tüt! Tüüt Tüüt T-tüt!
In Windeseile und mit der Präzision einer Katze steckte ich meine Geldbörse ein. Mein Gegner zuckte beim bloßen Anblick meiner Schnelligkeit und stolperte rückwärts durch den Gang zu seinem Platz, die Augen vor Überraschung noch immer starr auf mich gerichtet. Er sackte leblos in sich zusammen. Ein Lächeln umspielte meine Mundwinkel und ein Raunen ging durch den Bus.
Heute zockst du mich nicht ab, Amigo
Die Menge begann zu toben, während ich mir den Rest Bakterien von der Fingerkuppe pustete.
Ich spürte wie sie mich ergriffen und in die Lüfte hoben.
Dann schmiss mich der Mob gemeinsam aus dem Bus.

Ich war in Hua Bingh gelandet. Schon mal ein Anfang.
Abermals eierte ich herum und suchte jemanden, mit dem ich mich verständigen konnte.
Mhong? Museum? Mhong?
Der ältere Mann, dem ich all diese qualifizierten Fragen stellte lachte und drehte sich um seine eigene Achse.
Mhong! 
Er deutete mit seinen Armen auf alles in der Umgebung.
Alles ist Mhong, du Idiot! musste er sich gedacht haben.

Wikipedia leitet den Begriff Hmong (ja so wird es eigentlich geschrieben) wie folgt ein:

"Die Hmong (viet. Mẹo) sind ein indigenes Volk Südostasiens. Sie leben hauptsächlich in den bewaldeten Berggebieten des südlichen China (Provinzen GuizhouSichuanYunnan und das Autonome Gebiet Guangxi), LaosVietnam und Thailand. In China sind sie der übergreifenden Miao-Nationalität zugeordnet, die über neun Millionen Menschen zählt."

Es war so, als wäre ich nach Berlin gefahren und hätte jede einzelne Person gefragt:
"Berliner???"

Der Mann wirkte sichtlich angestrengt.
Er holte sein Handy hervor, machte ein Telefonat und reichte die Person am anderen Ende dann an mich weiter. Und tatsächlich konnte diese Person etwas englisch sprechen. Nicht viel, aber um einiges mehr als die anderen. Ich erklärte ihr, dass ich für ein Seminar hier war, dass bereits seit drei Tagen begonnen hatte, und wohl in irgendein Museum müsse... Selber wusste ich es schließlich auch nicht besser.
Sie entgegnete mir nur:
"Alles ist Hmong, und es gibt tausende Museen."
Schöne Scheiße.
Ich reichte sie wieder zurück an den Herren und sie unterhielten sich noch eine kleine Weile, während ich dastand, und die Kälte genoss.
Verloren in Vietnam.
Irgendwie geil.

Der alte kam zu mir und drückte mir einen Motorrad Helm in die Hand. Dann deutete er auf sein Moped. Ohne weiteres stieg ich auf und hielt es für am sinnvollsten, nichts zu hinterfragen.
Was blieb mir auch anderes übrig?
Es begann eine weitere Fahrt durch die Berge, bei der es mir mit jeder Sekunde so vorkam als würden wir uns sogar NOCH mehr von der Zivilisation entfernen, als wir überhaupt schon waren.
Kleine Dörfer, kleine Hütten, dann wieder nichts außer kurvige Bergstraße und Felder.
So verging eine knappe weitere Stunde.
Die kalte Fahrtluft umgarnte mich und rasierte mir die Beine.
TÖTE MICH! wollte ich gerade schreien -
doch dann, wie aus dem nichts, hielt der Mann an. Neben uns befand sich ein Gebäudekomplex aus altem Holz, gebaut auf Stelzen unter denen allerhand Kram, wie Webstühle und andere Instrumente standen.
Eine Frau kam mit kleinen Schritten die Treppe runter.
Und ich schwöre euch, ich habe KEINE Ahnung, wie der alte Mann es finden konnte, wie er mich sicher hinbringen konnte, aber als die Frau mich fragte "Bist du Roger?", wusste ich, dass ich es auf erstaunliche Weise geschafft hatte.
Der Tag war wieder einmal gerettet.
Es stellte sich heraus, dass mein Mopedfahrer wohl so etwas wie ein Taxifahrer war. Aber wie er es geschafft hat, mich heil und sicher ans Ziel zu bringen, wird für immer ein Rätsel bleiben.
Puh.

Also bis hier hin ist der Blog Eintrag schon ziemlich lang, aber es kommt nicht mehr sehr viel, also gehen wir doch die Extra Meile zusammen, oder?
Jetzt wäre vielleicht der richtige Moment für eine Kaffeepause. Oder eine Pinkelpause.
Ich werde mich von jetzt an versuchen etwas kürzer zu schließen, ok?
Ok.
Also -

die Leute auf dem Seminar waren ziemlich cool. Alles waren von Weltwärts versandte Deutsche, was die Kommunikation natürlich etwas leichter machte, wenn wir unter uns waren und sprachen - die Seminarleiter hingegen waren jedoch Vietnamesen, und so fanden sämtliche Besprechungen auf englisch statt.
Es war eine schöne Zeit in der viel Denkwürdiges passiert ist. Zum Beispiel der Tag, an dem wir gemeinsam durch die Berge wanderten und ich nur Flip Flops anhatte. Oder wir mit irgendwelchen Dorfbewohnern Volleyball spielten und richtig mies abgezockt wurden.
Auch das Essen war gut und da wir im Museum hausten lernte ich viel über die Hmong Kultur, was ich dann bis heute langsam und gemächlich Stück für Stück vergessen konnte.
Aber, aber, denkt sich der Leser. Bei einer so vielschichtigen und interessanten Reise, wo sind da die Bilder?
Die Bilder sind logischerweise auf meiner Kamera.
Die Frage ist folgende:
Wo ist meine Kamera?

Es begann mit der letzten Nacht in Hanoi. Das für mich nun etwas verkürzte Seminar kam zum Ende, und so entschied ich mich noch eine letzte Partynacht mit meinen neu gewonnenen Freunden in Hanoi zu verbringen, bevor am nächsten morgen (um 8!!!) mein Flug zurück nach Bangkok ging.
Es startete auch alles ganz normal - und zwar mit einem Bier Büffet und gratis Shots im Backpacker Hostel.
Freibier bis 22:00, dazwischen Tequila Shots zu jeder vollen Stunde. Oder jede halbe Stunde. Aber das spielt ja keine Rolle. Ich war im Paradies.
Die Shots wurden wie folgt eingenommen:
Man ging zur Bar, lehnte sich rückwärts auf den Tresen, der Barman streute einem Salz ins Maul, kippte zwei Shots gleichzeitig hinein, presste eine Zitronenhälfte aus und befahl einem dann aufzustehen und das ganze mit schwingenden Kopfbewegungen zu vermischen.
An der Steinwand hinter ihm war mit Edding eine ellenlange Liste verschiedener Länder geschrieben worden, hinter denen dann Striche für die jeweiligen Landsmänner und Helden gemacht wurden, die sich mit Shots im wahrsten Sinne abschossen.
Hatte man das Zeug also geschluckt fragte der Barmann aus welchem Land man kam und machte einen Strich.
Australien führte.
Ich meldete mich für Thailand. Der Barmann nahm den Stift und schrieb Thailand ganz unten in die Liste. Dahinter machte er die ersten zwei Striche und ich war stolz.
Dieser Auftakt endete selbstredend nicht gut.

Meine neuen Freunde und ich zogen noch um die Häuser, und um ehrlich zu sein ist der Rest wirklich ziemlich verschwommen. Ich erinnere mich nur, dass wir zurück ins Hostel kamen, als die Stadt düster und leer war. Wie ausgestorben. Sämtliche Rolläden waren unten, es war totenstill und keine Menschenseele befand sich mehr auf der Straße.
Ich bekam tierischen Suffhunger.
Am Empfangsschalter des Hostels fragte ich, ob er mich noch einmal hinauslassen könnte.
"Auf eigene Gefahr" sagte er, öffnete das Gitter, entsperrte das Schloss, sprengte die Metalltür und entließ mich in eine Welt, die der von Dark Souls Konkurrenz machte.

Orientierungslos irrte ich umher, doch alles was ich sah war geschlossen. Irgendwo musste es doch ein verflixtes Restaurant geben! Es war beinahe wie blinde Kuh spielen - mit zwei Leuten in einem Fußballstadion.
Ich fand eine Gruppe Polizisten, oder zumindest habe ich sie als welche in Erinnerung, die an einer Straßenecke standen und recht dubios aussahen, aber auch die konnten wir nicht helfen.
Schritt für Schritt und mit knurrendem Magen suchte ich verzweifelt nach einem nächtlichen Restaurant, wie man sie zuhauf in Thailand fand. Oder einen 7/11.
(Der einzige Laden der einem 7/11 ähnlich war, war ein gefälschter und geschlossener Laden namens 11/7)
Erfolglos. Alles erfolglos.
Doch dann, oh Wunder hielt ein Moped direkt neben mir und erhellte die Straße. Ich fauchte und schärfte meine Klauen, als das Scheinwerferlicht auf mich fiel. Auf dem Moped saßen zwei mittelalte Frauen.
"Wonach suchst du? Hast du dich verlaufen?"
"Essen!"
"Es ist schwer um die Uhrzeit etwas zu essen zu finden, aber wir kennen da was. Komm, steig auf!"
Und wisst ihr, es gibt gewisse Sachen die einem erst später auffallen und die man anschließend bereut.
Ohne zu hinterfragen setzte ich mich in die Mitte zwischen die beiden, den Rucksack hinten über beide Schultern hängend.
Fehler.
Wie sie mich versucht haben abzulenken, während hinter mir die Tasche leergeräumt wurde,
das alles merkte ich und merkte es irgendwie auch nicht.
Sagen wir es so, ich hatte ein mulmiges Gefühl, hätte es den beiden aber nicht zugetraut mich so eiskalt zu bestehlen.
Von Asiaten war ich schließlich bisher nur die sehr zuvorkommende und höfliche thailändische Art gewöhnt.
Aber das hier, Leute, das hier war Nam!
Irgendwann hatte ich den Braten gerochen, und als sie mich bei einem geöffneten Straßenrestaurant absetzten (Props dafür), kam mir wieder einer meiner Sherlock Holmes-artigen Gedankenblitze.
Zeit schinden.
Du musst Zeit schinden, Tiger.
Meine Geldbörse hatte ich an mir in meiner Hosentasche. Check.
Was haben sie von dir genommen?
Bleib am Ball!
"Ihr zwei, ich bedanke mich ganz herzlich fürs Fahren und würde euch gerne noch kurz auf einen Teller Reis einladen"
Nur so hätte ich genug Zeit um sie zur Rede zu stellen. Nur so kann ich mir mein Eigentum zurück ergaunern. Spiel ein Spiel mit ihnen. umgedrehte Psychologie. Lass die Jäger zu den gejagten werden... verwickel sie in ein Gespräch und schlag zu, wenn sie es am wenigsten erwarten!

"Nein danke!", antwortete eine der beiden und gab Gas.

Mein Plan schmolz dahin wie eine chinesische Digitaluhr in der Sonne.
Taumelnd setzte ich mich auf einen Stuhl, bestellte mein Essen und glotzte in meinen Rucksack. Natürlich hatten sie das einzige genommen, das mir wirklich am Herzen lag. Meine Kamera mit allen Bildern... Thailand, Vietnam,,, alles weg. Futsch. Puff! Verschwunden!
Sie hatten einen Teil meiner Erinnerungen gestohlen, mit dem ich mich heute vermutlich noch an ein oder zwei mehr Details erinnern könnte. Aber hey, dafür haben sie im selben Moment eine neue Erinnerung generiert, mit der ich euch heute hoffentlich etwas unterhalten konnte.

So ärgerlich das auch gewesen sein mag, und so ärgerlich uns manche Dinge auch vorkommen mögen - diese Ereignisse, ob positiv oder negativ, sind alles Zutaten die diesem Blog die nötige Würze verleihen, die er braucht um zu existieren.
Ansonsten hätte ich ja nix zu erzählen und DAS wäre ja nun wirklich schlimm.
Und eins muss man ihnen auch lassen, den diebischen Elstern: sie haben mich wie versprochen an einem Restaurant raus gelassen.
Ich bekämpfte meinen Hunger und fand irgendwie allein zurück ins Hostel. Geschlagen legte ich mich ins Bett, während die Leute um mich herum bereits schnarchten. Zwei Stunden später klingelte der Wecker  und signalisierte mir, dass es Zeit war Vietnam zu verlassen.
Dass es Zeit war heimzukehren.




















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