Montag, 7. Februar 2022

Zechprellerei für Anfänger

Udon Thani, Thailand. Jahr 2011.

Müde und erschöpft glotzte ich die sandige Straße entlang, die sich weitläufig und gradlinig bis zum Horizont erstreckte.
Wie lange wartete ich hier bereits? Oder viel wichtiger: wie lange musste ich noch warten? Auf meiner hohen Stirn brutzelte es.

Wasser.

Ich kramte meine Flasche aus dem Rucksack und trank einen Schluck kochendes Wasser, dass sich heiß und kratzig seinen Weg durch meine Speiseröhre ätzte. Mit ein paar weiteren Tropfen löschte ich elegant meine brennenden Haare, die unter der sengenden Mittagssonne Feuer gefasst hatten. 
No Problemo.
"Wenigstens habe ich noch Wasser", dachte ich mit dem Anflug eines süffisanten Grinsens und starrte auf das in sich zusammengesackte Skelett neben mir. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis ich so enden würde wie mein knochiger Freund hier... Nur eine Frage der Zeit...

Um mich herum standen ein paar trostlos dreinblickende Farangs. Ausgetrocknete, menschliche Hüllen mit riesigen Nasen, aus deren Augen sämtliche Hoffnung bereits lange erloschen war. Nur die traurigen Moll-Töne einer Mundharmonika konnten die Gesamtstimmung etwas erheitern. So fristeten wir unser Dasein, die wir in dieser thailändischen Wüste gemeinsam gestrandet waren. 

Auf uns gestellt. Hilflos...

Eine Frau wimmerte laut auf und weinte vor Verzweiflung, doch aus ihren Tränendrüsen kam nur zischend heißer Dampf.
Es gab keinen Rückzugsort. Lediglich die Geier, die über uns kreisten, spendeten hin und wieder kostbaren Schatten in dem sich meine empfindliche Haut - wenn auch nur für den Bruchteil eines Augenblicks - erholen konnte.. 
Qüäääääärggg machten die Geier. Quäääääääääääärggg!!!
Mein Blick fiel auf einen älteren Herren, der deprimiert mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr klopfte. Beinahe so als könne er die Zeit somit beschleunigen. 

"Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen wann der Bus nach Vientiane kommt?" hustete ich hervor, doch als ich ihm auf die Schulter tippte zerfiel er bereits zu Staub. Die sengende Hitze Udons hatte ein weiteres Opfer gefordert. 
Doch der Bruch der Stille durch meine krächzende Stimme blieb nicht ungehört und hatte die Aufmerksamkeit eines Mannes gewonnen, der sich nun langsam und humpelnd auf mich zubewegte. 
Klock, klock, machte das Holzbein. Klock, klock! 
Er kam vor mir zum stehen.

"Warst du auch im Bus von Bangkok hierher?" fragte er mich.
"Ja", antwortete ich ihm. Ich meinte mich an sein wettergegerbtes Gesicht erinnern zu können.
"Holprige Fahrt, was?"
Holprig?, dachte ich und erinnerte mich daran, dass ich die meiste Zeit der Fahrt unter der Decke geklebt hatte.
"Glich eher einer stürmischen Bootsfahrt auf hoher See würde ich sagen."
"Stimmt sehr genau." sagte der Mann.
"Und ich weiß, wovon ich spreche. Ich bin Tom. Captain Tom. Freut mich dich kennenzulernen."
Er hielt mir eine scheinende Hakenhand hin. Ich ergriff das glühende Metall und schüttelte drauf los, ohne mir etwas anmerken zu lassen. 
"Freut mich."
Mit der freien Hand kramte er ein kleines Päckchen aus seiner Tasche hervor.
"Zigarette?" fragte er.
"Bingo", bestätigte ich in der Annahme, dass er vielleicht auch Glasaugen hatte. 
"Willst du eine?"
"Immer."
Ich steckte mir die Zigarette in mein pappiges Maul, wo sie sich sofort von selbst entzündete.  Gemeinsam standen wir da und qualmten, während irgendwo am Horizont endlich die Silhouette eines Busses Gestalt annahm.
"Das sollte unser sein." sagte Tom, als der Bus mit geschmolzenen Reifen vor uns zum Stehen kam.

Dann stiegen die letzten Hinterbliebenen ein und die Reise über die Grenze nach Laos begann...

Tja und genau so (oder so in etwa) wurde am Rande der Welt in der flammenden Hitze Udon Thanis eine neue Freundschaft geschmiedet. Die Freundschaft zwischen Captain Tom Burland und mir.

Jetzt fragt sich der ein oder andere Leser natürlich (völlig zurecht), wohin ich überhaupt unterwegs war an jenem Tag. Was verschlug einen jungen Knappen wie mich in solch fremde Gefilde?

Wie ich vielleicht schon in einigen Geschichten zuvor erwähnt habe (aber vielleicht auch nicht, keine Ahnung) wurde ich in Thailand nur geduldet, weil ich ein Touristenvisum besaß und extrem cool war. 
War das Visum in Kombination mit meiner Freiwilligenarbeit kompatibel und koscher? 
Eeeeehm... nein. 
Aber natürlich war der Begriff "Arbeit" in meinem Fall auch sehr dehnbar. 
SEHR, sehr dehnbar.
 
Egal, 90 Tage Aufenthalt bekam ich mit meinem Touri-Visum, und selbst die ambitionslosesten Mathematiker unter euch können vielleicht ausrechnen, dass diese Zeitspanne für ein gesamtes Jahr nicht so ganz genügt. Deshalb hieß es dann alle 3 Monate: 
Koffer packen; Das nächstbeste Land raussuchen; Dieses Land bereisen; Die thailändische Botschaft dort aufsuchen; Sich halbwegs vernünftig anstellen; Ein neues Touri-Visum beantragen; Wieder nach Thailand reisen. 
Rinse and repeat. 

Das ganze nennt man dann einen "Visa Run", nur das keiner der beteiligten rennt, sondern sich alle arschlangsam von A nach B bewegen, damit arschlangsame Behörden deine Dokumente abhandeln, damit man dann anschließend arschlangsam wieder zurück von B nach A konnte. 
Aus Chiang Mai im Norden Thailands bot sich Laos von der Entfernung her am ehesten an.

Aber genug mit den langweiligen Hintergrundinformationen.

Von Udon Thani war es noch ein ganzes Stück bis an die laotische Grenze und so kamen Tom und ich natürlicherweise ins Gespräch. Er erzählte mir warum er nach Vientiane wollte, und ich erzählte ihm warum ich dorthin wollte und - oh Wunder - wir stellten fest, dass wir aus dem gleichen Grund unterwegs waren. So wie wahrscheinlich 99% der anderen Rosinen - ich meine Fahrgäste.
Wir plauderten den ganzen Trip über und Tom tischte mir eine Seemanslüge nach der nächsten auf, die ich ihm alle naiv nickend abkaufte. 
Plötzlich war er kein Yacht Kapitän mehr, wie er es anfangs behauptet hatte, sondern britischer Agent in geheimer Mission. Zum "Beweis" ließ mich ganz kurz einen Blick auf die 6 Reisepässe erhaschen, die er im Rucksack hatte. 

"Warum hast du so viele Reisepässe?" fragte ich ihn.
"Das sind alles falsche Pässe um meine Identität zu verbergen. Hat mir der Geheimdienst gestellt. So komm ich problemlos in jedes Land der Welt, aber sag's nicht weiter oder ich müsste dich töten."
"Aha. Schade dass die dir kein Visum reingeklebt haben", sagte ich und dachte mir dass es viel cooler sei, wenn er Grenzschmuggler wär.

Dann war er plötzlich doch wieder Kapitän und erzählte mir, dass seine Super Yacht, auf der er exklusive Luxustouren für reiche Schnösel anbot, wohl einst dem schwedischen Kronprinzen oder so ähnlich gehört hatte, und es die einzige verbliebene ihrer Art weltweit war. Jetzt cruiste er damit quer durch den Golf von Thailand.
Als ich ihn daraufhin fragte, ob ich jemals auf diese Yacht könne belächelte er mich nur mitleidig und wechselte zügig das Thema. 
Welche seiner Geschichten ich nun glauben konnte, und welche nicht, wusste ich nicht. Tom war definitiv ein komischer Kauz, aber ein sehr sympathischer.

"Glaube niemals einem Seemann!" sagte er dann augenzwinkernd, als mein Kopf anfing zu qualmen.
"Glaube niemals einem Seemann!", krächzte der Papagei auf seiner Schulter, denn Tom war auch Pirat.
Auf jedem Schiff was schwimmt und schwabbelt, gibt's einen, der dämlich sabbelt.

Naja, wenigstens wisst ihr, dass ihr zumindest mir alles glauben könnt, was ich euch erzähle. 

Jedenfalls lachten wir viel und verstanden uns echt gut, der alte Brite und ich, also beschlossen wir im Zuge dessen gemeinsam den Weg zur thailändischen Botschaft zu bestreiten. Immerhin saßen wir ja im gleichen Boot... Sorry... Bus.
Nach einem zähen Grenzübergang und ein paar Stunden später erreichten wir dann endlich die Botschaft. Doch es bahnte sich ein Problem an:
Etwa Einemillionvierhundertfünfundsiebzigtausendachthundertneununddreißig Menschen standen da  am Eingangstor und bildeten eine Schlange, die so lang und war, dass man sie vermutlich vom Weltall aus sehen konnte. Und es war nicht die Schlange zum Jungsklo. 
Brav stellten wir uns hinten an und spielten wieder Kaktus. Brutzzzzzz-
Aber es war zu spät... die Schließzeit nahte.
Selbst mein extrem gutes Aussehen und mein unwiderstehlicher Charme konnten die militanten Mitarbeiter nicht davon überzeugen, uns da am gleichen Tag noch irgendwie zwischenzuquetschen. Das einzige wo man uns zwischenquetschte war die Ausgangstür, als man uns rausschmiss.
"Kommt morgen wieder!" 
"Kommt ihr doch wieder!", bellte ich als Tom mich am Kragen wegzog.
"Das tun wir auch!"
"Na umso besser!"

Toll. Und nun?

"Bleib entspannt, ist doch alles kein Problem", sagte Tom, dem es völlig egal zu sein schien. "Dann bleiben wir halt einen Tag länger."
"Überhaupt kein Problem", wiederholte ich und zählte nervös die letzten Pfennig in meiner löchrigen Hosentasche - nicht vorbereitet auf die extra Nacht die ich würde bezahlen müssen. Aber was blieb mir für eine Wahl? 
Selbstverständlich war es "kein Problem" für den Kapitän einer Super Yacht, aber für einen Tagelöhner und armen Tunichtgut wie mich? 
"Lass uns was essen gehen und einen saufen." schlug er munter vor.
Erneut grabschte ich nach dem Geld in meiner Tasche und konnte mir ausrechnen, dass es gerade so für Reis mit Ketchup reichen würde. Vermutlich nicht die Art Küche, an die Tom in diesem Moment dachte.

Doch der Magen knurrte unüberhörbar.
Speisen, du brauchst Speisen, flüsterte der hungrige Hugo in mir.
DURST! Du hast DURST! schrie mein innerer Don Promillo.

"Hier soll es gute Straßenlokale geben. Magst du Reis mit Ketchup?"

Wenig später fand ich mich wieder in einem französischen Restaurant mit einer vollen Karaffe Rotwein auf dem Tisch. Exquisit
Es gab auch was zu essen, aber das war Nebensache. Captain Tom fühlte sich in der Pflicht mich einzuladen, und wer bin ich schon um das Pflichtbewusstsein anderer Leute zu hinterfragen? Das nennt sich "Respekt zollen". Und ich respektierte selbstverständlich jede Karaffe, die fortwährend an den Tisch geflogen kam. 

"Voilà, le vin de province" sagte der freundliche Kellner.
"Bonjour baguette, je m'appelle le fromage", bedankte ich mich und riss die nächste Karaffe an mich, während die Gäste begeistert jubelten.

Nachdem ich es mir auf Kosten Toms wie ein Schwein habe gutgehen lassen war es an der Zeit eine angemessene Unterkunft zu suchen. Wir kehrten in einem kleinen billig Hotel ein und jeder bekam seinen Zimmerschlüssel. Während der Captain immer noch mit seinen Reisepässen an der Rezeption jonglierte um seine vermeintliche Identitätskrise zu bewältigen, nahm ich meine Tasche und verabschiedete mich für ein Ausnüchterungsnickerchen.
"Bis nachher."

Soll der Abend nur kommen, dachte ich mir und machte mich lang. 

Und der Abend kam. 
Als Tom an meiner Tür klopfte um mich abzuholen war ich schon längst bereit und quietschfidel. Wir liefen durch die Stadt und bestaunten dieses und jenes. Schöne Gebäude im französischen Kolonialstil ragten empor, dicht an dicht natürlich mit den typischen asiatischen Tempeln, die man auch in Thailand bestaunen kann. Dieses und jenes halt. Wenn ihr mehr wissen wollt, lest woanders nach.
Irgendwo spielte gute Live Musik die uns letztendlich in ihren Bann zog, und wir folgten dieser bis wir die Quelle (allen Übels) schließlich fanden. Was für ein Eindruck! Ein Restaurant mit edlem Vorgarten, einer Bar, zwei Etagen und sehr elegant gekleideten Menschen. 
Kurz und knapp: meiner würdig. 
Wir setzten uns an einen Tisch als auch schon ein laotischer Kellner in einem weißen Hemd lächelnd zu uns hinüber schwebte. Er reichte uns die in Büffelleder gebundenen Speisekarten und verneigte sich.
Ohne auf den Preis zu achten wurde wild drauf los bestellt. Es gab feinsten Rotwein und feinste Rippchen noch und nöcher. Exquisit! Dazu ein paar Bierchen. Bonjour! 
Wir tauschten Geschichten aus während das hervorragendste Quintett des Landes nur für uns auf den feinsten Mahagoni Instrumenten liebliche Klänge musizierte. 

"Le Vin!" Wieder flogen die Karaffen. 
"Le Bier", Es segelten die Flaschen.
"Le Klo!"

Exquisit! 
Ein paar Promille und fragwürdige Geschichten später beschlossen wir uns dann allmählich dazu weiterzuziehen. Es gab schließlich so viel zu sehen, und wann würde man schon jemals wieder die Gelegenheit haben, Vientiane zu bereisen!? (Korrekt, in 90 Tagen.)

Der Captain hatte natürlich verstanden, dass ich nicht in Geld schwamm. Oder besser gesagt: dass ich wie ein Stein in den Mariannengraben versank. Also tat er das nobelste, was ein Kapitän nur tun konnte, und schmiss mir einen imaginären Rettungsreifen zu. Kurz gesagt: er wollte die Rechnung begleichen. 

"Ich geh draußen eine rauchen und warte da, ok?" sagte ich um der Schmach zu entgehen.
"Mach das, ich kümmere mich um den Rest hier", sagte Tom.

Ich stand an der Straße und schaute besoffen in die Sterne. Wie komisch es doch manchmal sein konnte. Im einen Moment trank man noch das  Kondenswasser von Bananenblättern, im nächsten saß man im Restaurant und trank Wein wie König Louis XIV. 
Etwa fünf Minuten verstrichen. Ich stampfte gerade meine Zigarette in den Boden, als Tom entspannt aus dem Restaurant geschlendert kam.

"Alles klar, wir können los."
"Aye aye, Capitano!"

Gemeinsam liefen wir in Richtung des Mekong Flusses, an dessen Ufer sich etliche Bars und Restaurants befanden, die nur darauf warteten von uns leergesoffen zu werden. Obwohl ich wusste, dass der Captain wahrscheinlich nicht durch mich am finanziellen Ruin kratzte, wollte ich trotzdem in angemessener Weise meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen.

"Hey Tom."
"Hm?"
"Ich wollte mich bedanken für alles. Die Einladung und so - das war sehr edel von dir."
Er lächelte.
"Ist doch nichts dabei, dafür haben wir doch eine gute Zeit. Das ist es erstens wert, und zweitens tut es mir nicht weh. Ich bin erfolgreicher Kapitän einer royalen Super Yacht und du bist... du bist... ein witziges Kerlchen, ja? Also Win-Win würde ich sagen."
"Danke... Trotzdem fühle ich mich etwas unwohl.", log ich.
"Brauchst du nicht" sagte Tom und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. 
"Wie hoch kam die Rechnung?"
"Kann ich dir nicht sagen."
"Komm schon."
"Kann ich wirklich nicht. Ich verrat dir was: Ich hab nicht bezahlt. Hat mir einfach zu lange gedauert. Also gibt es auch keinen Grund sich unwohl zu fühlen, oder? Verbleiben wir doch so." Beschwichtigte er mich.
"Na schön, dann behalte deine Geheimnisse doch für dich du alter Lügenbaron." sagte ich und beließ es dabei. 
Es war ja letztendlich auch egal. Tom genoss es aus seiner Persona ein Geheimnis zu machen, also wollte ich ihm das nicht nehmen. Zumindest solang er noch liquide war.

Die Nacht war klar und das Wetter angenehm und mild. Wir erreichten den Mekong und schlenderten ganz entspannt die bunte Promenade entlang. Eine einladende Bar jagte die nächste. Tuk Tuks rasten an uns vorbei, Menschen lachten und überall dudelte Musik. Wir pfiffen fröhlich vor uns hin und genossen den Spaziergang. Aber wir alle kennen ja das alte Sprichwort: 

"Nach dem Essen sollst du laufen, und dann noch 10 Biere saufen" 

Und weil wir uns nicht entscheiden konnten in welche Bar wir gehen sollten um zehn Biere zu saufen, statteten wir einfach allen einen Besuch ab. Also nicht allen, aber so drei bis vier. Oder nur zwei, ich weiß es nicht, jedenfalls mehr als eine und weniger als fünf. Es ist lange her, OK? Schreit mich nicht an.

Die Zeit verging wie im Flug und der Abend nahm so richtig an Fahrt auf.

Natürlich kann ich mich nicht an jedes Wort oder jede Konversation erinnern, die wir damals führten. Irgendwann verschwimmt alles, und der stetige Fluss von Alkohol zu jener Zeit war vielleicht nicht gerade hilfreich, aber eine Sache ist ziemlich detailliert hängen geblieben und deshalb möchte ich sie euch nun wahrheitsgemäß schildern. 
In kursiv natürlich, um es immersiver zu gestalten. Also schließt eure Augen und hört mir zu.

...aber besser ist es, ihr lest:

Wir standen wankend am Straßenrand, der Captain und ich, und zelebrierten den Augenblick. Zwei Männer, denen die Welt zu Füßen lag. Wie erstaunlich schön das Leben doch sein konnte. Ich nahm mein Glas voller Elan vom Tisch, verschüttete dabei die Hälfte, und genehmigte mir einen eiskalten Schluck Bier. Herrlich, köstlich, erfrischend. 
Es wehte eine angenehm leichte Brise. 
Hier, so nah am Wasser, störte selbst die Hitze nicht, die sich sonst wie eine Decke über die glühende Stadt legte. Ein Gefühl der kompletten Zufriedenheit breitete sich in mir aus. 
Ich sah mich um und versuchte mich sämtlichen Wahrnehmungen hinzugeben, die zeitgleich meine Sinne umspielten. Ich lauschte den Stimmen um mich herum, die in verschiedensten Tönen und Zungen miteinander sprachen und lachten. Ich konnte nicht jedes Wort verstehen, aber ich fühlte die Energie der Menschen, und ich verstand, dass es die selbe Energie war, die auch mich in diesem Moment durchströmte und ein Teil des Ganzen werden ließ. Auf der Wasseroberfläche des Mekong spiegelten sich die Leuchtreklamen der Stadt, und verwandelten den ansonsten ruhigen Fluss in ein magisches Lichtspiel. Die Gerüche verschiedenster Spezialitäten vereinten sich und bildeten einen riesigen, kulinarischen Furz. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Der Moment war nahezu perfekt. Einer jener Momente, der nicht mal durch einen wütenden, lauthals schreienden Engländer ruiniert werden konnte.

"Ihr F****N!" schrie ein sehr wütender Engländer lautstark irgendwo in der Nähe und ruinierte den Moment. Er stürmte mit einem Affenzahn über die Straße. Ein zweiter, noch wütenderer, lauter grölender Engländer folgte ihm. 
Ich wurde aus meiner kleinen Trance gerissen.
Hoppla! schmunzelte ich in mich hinein. Da hat wohl jemand was verzapft
Gespannt beobachtete ich die beiden und folgte ihrem Kurs. Die Menschenmenge, die gerade noch so friedlich miteinander stand und Kumbaya gesungen hatte, wich zur Seite wie ein Schwarm Fische, der von einem Hai durchkreuzt wird. 

"F****N!" schepperte es erneut etwas lauter. 
Belustigt stieß ich Tom in die Seite.
"Den Ärger möchte ich nicht haben, hehe." Ich schaute hinüber zum Tuk Tuk in dem die beiden mit Highspeed vorgefahren waren. 
Da saß noch jemand, aber es war kein Englänger. Es war ein laotischer Kellner mit weißem Hemd. 

Momentchen - es war DER laotische Kellner im weißen Hemd. Flashbacks. WUSH!
"Le Vin! Le Bier! Le Rippen mit BBQ Sauce!" 
Mir klappte die Kinnlade runter und Toms Augen weiteten sich alarmierend als der Ärger plötzlich direkt vor uns zum Stehen kam - Bonjour!

"Ihr scheiß F****N kommt in MEIN Restaurant, trinkt MEINEN Wein, fresst MEIN Essen und VERPISST euch einfach OHNE ZU ZAHLEN!!! WAS GLAUBT IHR WER IHR W*CH*** SEID?!?!" 
Es donnerte.
"Augenblick - " begann Tom.
"WIR SIND DURCH DIE GANZE V*RF*CKT* STADT GEFAHREN UM EUCH ZU FINDEN!!"

Ich war Fassungslos. Fassungslos darüber, dass die zwei netten Herren scheinbar stundenlang mit dem Tuk Tuk durch die Stadt gefahren waren, um uns dann TATSÄCHLICH in der Menschenmenge vor einer unscheinbaren Straßenkneipe zu FINDEN!  (Ich meine wie groß waren die Chancen? Verflucht sei mein gutes Aussehen!)
Aber noch fassungsloser war ich, weil es bedeutete, dass Tom ausnahmsweise mal die Wahrheit erzählt hatte, als er in aller Seelenruhe aus dem Luxusrestaurant gelatscht kam, nachdem er dort völlig tiefenentspannt die Zeche geprellt hatte.

Nun ging es uns so richtig an den Kragen. 

"Leute...", versuchte Tom es erneut um die Situation zu schlichten?
"NICHTS LEUTE! IHR SCHEIß *RSCHL*CH*R!!! 
Der Schreihals war Tom ganz Nahe und brüllte ihm direkt ins Gesicht, während der andere sich mit einem Berserker-Schrei das T-Shirt von der Brust riss. Ein Raunen ging durch die Menge um uns herum, dann folgte eine Laola-Welle. Olé!

"F****N!!", wiederholte sich der rotköpfige Brite und besprühte Tom mit Spucke.

Das war zu viel. Genug war genug. NIEMAND beleidigt uns derart! All die Jahre Tae-Kwon-Do Training kamen zu mir zurück. All die Lektionen meines koreanischen Trainers Mehmet in der Sportschule am Westphalweg waren wieder da. Meine Muskeln wussten instinktiv, wie sich sich verhalten mussten. In alter Perfektion machte ich einen Ausfallschritt nach hinten, holte Schwung und verpasste dem Hünen vor mir einen Roundhouse-Kick genau in die Kauleiste. KNIRSCH!! 
Aber Nein!
Erschrocken stellte ich fest, dass mein Tritt das Gebiss des Engländers sogar aufgewertet hatte, und dieser nun hübsch lächelnd und mit mehr Selbstbewusstsein denn je nach mir ausholte. 
"HYAAAA!!!"
Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig nach unten, und er kam ins Schwanken. 
Tom erkannte sein Opening. Im Bruchteil einer Sekunde schraubte er sein Holzbein ab und zog es meinem torkelnden Angreifer über den Schädel. RUMS! Olé!!! Bonjour!

"F**********N!!!"

Der Schreihals wollte seinen Kumpel auffangen, doch da schepperte es schon erneut. 
KAPOW! 
"Sag Hallo zu meinem Freund, Mr. Haken!" rief Tom und beendete den Kampf mit einem Schlag auf die Nase, der durchs gesamte goldene Dreieck hallte. Ding, ding, ding, Gute Nacht!

So zumindest hätte ich die Geschichte als Seemann erzählt. 
Ach, ihr wollt die Wahrheit?

Na schön:
Captain Tom und ich standen kleinlaut in die Ecke gedrängt und ließen uns vor der versammelten Menschentraube heftig zusammenscheißen. Und das eigentlich völlig zurecht, wie ich bis heute finde. Eine deftige Beleidigung folgte der nächsten. Brav standen wir da und ließen es über uns ergehen. 
Ja, Sir. Es war falsch, Sir.
Als der gemeine Kerl endlich mal Luft holte, versuchte Tom es zum letzten Mal.

"Ich wollte ja bezahlen, aber es kam ja keiner an den Tisch..." Er zeigte auf den arschlangsamen Kellner, der noch immer im Tuk Tuk saß und schlafend auf seine Chefs wartete. 
"Ich zahle einfach jetzt."
"UND WIE DU ZAHLST!"
Dann zückte Tom seine Geldbörse und durchblätterte ein Bündel Scheine.
"Hier. Als Friedensangebot?"
 
Tom gab seinem Landsmann eine gehörige Summe Geld. 
Der wütende Engländer riss es ihm aus der Hand und steckte es ein.
"Lasst euch nie wieder in einem unserer Läden blicken, ihr F****N!" Dann spuckte er auf den Boden und die beiden zogen ab. Puh.
Schwitzend sah ich zu Tom hinüber.
"Hey, sieh mich nicht so vorwurfsvoll an. Was kann ich dafür wenn die Belegschaft dort so langsam ist..."
"Mann, du hast ganz schön geblecht", sagte ich noch immer ein wenig perplex.
"Klar, aber es ist es nicht wert wegen ein paar Kröten abgestochen zu werden."

Ich bin zwar der Meinung, dass ein paar Stichwunden diese Geschichte um ein vielfaches aufgewertet hätte, aber letztendlich hatte er wohl recht.
Die Leute um uns starrten noch eine ganze Weile, bis sie sich dann wieder ihrem eigenen Kram widmeten. Langsam sank auch unser Puls wieder auf ein normales Level. Das war knapp. 

"Warum habt ihr mit denen Ärger angefangen?" fragte eine Frau, die das ganze Schauspiel interessiert beobachtet hatte.
"Wisst ihr denn nicht, dass denen sämtliche Läden der Stadt gehören?! Glück im Unglück, dass ihr so glimpflich davon gekommen seid. Wenn die sich nämlich dafür entscheiden, dass ihr die Stadt nicht mehr verlasst, dann verlasst ihr die Stadt auch nicht mehr. Die Jungs stecken mit allen unter einer Decke. Die sind Teil der lokalen Mafia."

Nein, Lady, das wussten wir offensichtlich nicht. 

Wir setzten uns zu ihr an den Tisch und soffen weiter bis tief in die Nacht. Was für ein glorreicher Abend!

Am nächsten Morgen schafften wir es dann trotz Kater ziemlich pünktlich zur thailändischen Botschaft um unsere Papiere einzureichen. Es stelle sich heraus, dass all die Reisepässe die Tom besaß, gar nicht seine waren, sondern die seiner gesammelten Crew, die noch irgendwo an einem Hafen in Thailand auf der Super Yacht verweilte. Geheimnis gelüftet. 
Anschließend hielt ich es für das Beste, den Rest des Nachmittags damit zu verbringen, zu komern. Somit neigte sich unsere gemeinsame Geschichte also ganz langsam und schnarchend dem Ende. Wir holten unsere frischen Visa am Folgetag ab und nach einer letzten Mahlzeit zusammen war es an der Zeit, dass jeder wieder seinen Weg ging. Es war eine kurze, aber knackig-intensive Zeit gewesen.

"Ich hab noch ein paar Schiffsteile, die ich abholen muss, dann geht es wieder auf See" sagte Tom.
"Warum kommst du nicht mit auf meine Yacht?"
"Als Gast?"
"Nein, aber wenn du Arbeit brauchst. Es gibt immer eine alte Zahnbürste mit der du das Deck schrubben könntest. Stich in die See mit uns. Ich will nicht lügen, es ist hart und nicht immer schön. Es ist eigentlich nie schön und immer nur hart, aber alles was du verdienst wandert direkt in deine Tasche, Kost und Logis ist umsonst, es gibt keine Steuern oder Abgaben. Die Crew könnte einen verrückten Bastard wie dich jederzeit gebrauchen."

Ich überlegte eine Weile. Doch so verlockend das Angebot klang, hatte ich doch irgendwie das Gefühl, dass meine Zeit in Thailand noch lange nicht vorbei war. 

"Irgendwann mein lieber. Noch liegen meine Pflichten woanders." 

Bis heute stelle ich mir vor wie es wohl gewesen wäre, einfach alles stehen und liegen zu lassen, um mit Captain Tom Burland und seiner Crew den Golf von Thailand unsicher zu machen. Was für weitere Geschichten und Abenteuer daraus entstanden wären. Aber es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Und leider sollte es diesen Zeitpunkt auch nie geben. 

"Na schön, aber das Angebot steht."
"Danke für alles Tom, es war mir eine Ehre." sagte ich aufrichtig und mit etwas Bedauern in der Stimme. 
"Wir hören von einander, ja?"
"Jederzeit mein Freund." sagte er und lächelte.
"Jederzeit."

Wir umarmten uns zum Abschied und Tom humpelte auf seinem Holzbein von Dannen. Kurz bevor er um eine Straßenbiegung verschwand, blitzte seine Hakenhand ein letztes Mal empor und salutierte zum Abschied.
"Bis dann."

Es ist mittlerweile über zehn Jahre her, seit wir uns an jenem Tag voneinander verabschiedeten. Wir hatten noch ein paar Mal schriftlichen Kontakt, aber wie der Lauf der Zeit es so will ist auch dieser zu guter Letzt eingeschlafen. Ich weiß nicht wo Tom ist, oder ob es ihm gut geht, aber wenn ich wie so oft an die alten Geschichten und Abenteuer zurück denke, die ich in all den Jahren erlebt habe, ist eines ganz sicher:

Captain Tom Burland wird dabei immer eine wichtige Rolle spielen. 

Mast- und Schotbruch mein Freund. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.